In letzter Zeit erreichen mich viele Anfragen von Journalist*innen, Tagebaubetroffenen, Klimabewegten und Bürger*innen aus dem Rheinischen Revier zu der Situation rund um den Kohletagebau Garzweiler, Lützerath und die politische Neuausrichtung der Kohleplanung. In Interviews, z.B. mit der Frankfurter Rundschau, der Kölner StadtRevue und der WELT spreche ich mich dafür aus, den Konflikt um die Kohle zu befrieden, damit unsere Region endlich zur Ruhe kommt und sich auf die Gestaltung eines nachhaltigen Strukturwandels konzentrieren kann.
In diesem Hintergrund-Info beantworte ich mir häufig gestellte Fragen zur Situation rund um Lützerath mit Blick auf aktuelle Daten und wissenschaftliche Erkenntnisse. In der gegenwärtig sehr komplexen energiepolitischen Lage ist es umso wichtiger, faktengeleitet und mit klarem Kompass zu handeln.
Was ist Lützerath?
Lützerath ist ein Dorf am Rande des Tagebau Garzweiler II und Teil des zweiten Umsiedlungsabschnittes. Die Umsiedlung der Bewohner*innen begann im Jahr 2006, zahlreiche Gebäude des Dorfes wurden in den letzten Jahren bereits abgerissen. Seit dem 01. September 2022 befinden sich alle Flächen und Gebäude des Dorfes im Eigentum von RWE. Der Tagebau wurde inzwischen bis unmittelbar an Lützerath vorangetrieben.
Im Anschluss an die Sperrung einer Landstraße, die für den Tagebau abgerissen wurde, wurde im Juli 2020 ein Protestcamp in Lützerath errichtet. Zahlreiche Initiativen wie Alle Dörfer bleiben, Greenpeace, der BUND NRW und Die Kirche(n) im Dorf lassen setzen sich regelmäßig mit Demonstrationen, Gottesdiensten, Bildungs- und Kulturveranstaltungen dort für den Erhalt Lützeraths im Zuge eines beschleunigten Kohleausstiegs ein, wodurch der Ort viel öffentliche und politische Aufmerksamkeit bekam.
Was steht im Koalitionsvertrag zum Kohleausstieg?
Ohne den Kohleausstieg bis 2030 sind die Klimaziele nicht zu erreichen. In den Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen mit der CDU konnten wir Grüne erreichen, dass wir ihn umsetzen und dafür die Kohleplanung anpassen.
Zu den Dörfern Keyenberg, Kuckum, Berverath, sowie Unter- und Oberwestrich steht im gemeinsamen Koalitionsvertrag unmissverständlich: „Alle Dörfer des dritten Umsiedlungsabschnitts werden wir erhalten“ und als Dörfer der Zukunft reaktivieren. Da die aktuelle Tagebauplanung noch von einem Ausstieg erst im Jahr 2038 ausgeht, bringen wir eine Neuplanung auf den Weg, die Grundlage für eine schnellstmögliche neue Leitentscheidung sein wird. Die Landesregierung stellt ein Einvernehmen mit RWE darüber her, „welche Tagebauflächen bis zur Fertigstellung der neuen Leitentscheidung noch genutzt“ werden, damit der Konzern nicht vorschnell unumkehrbare Fakten schafft. Außerdem soll „die weitere Tagebauführung in Garzweiler und Hambach unter Berücksichtigung aller Massenbedarfe so gestaltet werden, dass die Flächeninanspruchnahme auf ein Minimum begrenzt wird. Hierzu soll die Massenbilanzierung transparent evaluiert werden.“
Welche Rolle spielt der Erhalt Lützeraths für den Klimaschutz?
Unter Lützerath sind die Kohleflöze besonders mächtig, hier liegt also sehr viel Kohle im Boden. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) geht davon aus, dass ab Januar 2021 noch 200 Millionen Tonnen Kohle aus den Tagebauen Hambach und Garzweiler verbrannt werden dürften, damit Deutschland seine Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens einhalten kann. Derzeit plant RWE jedoch, bis 2038 noch 780 Millionen Tonnen Braunkohle abzubauen – der Tagebau Garzweiler muss also deutlich verkleinert und der Kohleausstieg auf spätestens 2030 beschleunigt werden um angesichts der sich verschärfenden Klimakrise der Verantwortung auch gegenüber nachfolgenden Generationen gerecht zu werden.
Wie steht es um die Versorgungssicherheit bei einem Erhalt Lützeraths?
Die aktuelle Studienlage belegt: auch bei einem Erhalt Lützeraths ist die Versorgungssicherheit dauerhaft und durchgehend gewährleistet. RWE hat die erste Sohle des Tagebaus zwischen Lützerath und Keyenberg bereits soweit vorgetrieben, dass bereits jetzt im Tagebau Garzweiler circa 100 Millionen Tonnen Kohle förderbar sind. In den letzten Jahren wurden jährlich circa 20 Millionen Tonnen Kohle aus Garzweiler gefördert – es ist also genug Kohle zur Förderung vorhanden, um auf Jahre hin die Kraftwerke zu beliefern, ohne Lützerath abzureißen. Eine Studie der TU Berlin zeigt, dass die bis 2030 maximal benötigten Kohlemengen so gefördert werden können, dass Lützerath erhalten bleiben kann. Im April 2022 untersuchte das Deutsche Institut für Wirtschaftsförderungen die Auswirkungen eines – inzwischen vollzogenen – Verzichts auf russische Steinkohleimporte und eine Einstellung russischer Gaslieferungen bei gleichzeitiger Umsetzung des deutschen Atomausstiegs auf die Stromversorgung. Sie kommen zu dem Schluss, dass der Kohleausstieg 2030 bei durchgehender Versorgungssicherheit auch in dieser sehr schwierigen Lage machbar bleibt, wenn mittelfristig bei dem von der Bundesregierung im Osterpaket angestrebten beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien ein rückläufiger Bedarf an Erdgas- und Kohleverstromung bis 2030 zu beobachten ist und kurzfristig Kohlekraftwerke aus der Netzreserve genutzt und die Sicherheitsbereitschaft einiger Kraftwerke verlängert werden. Hierfür wurden mit dem EKBG die Voraussetzungen geschaffen.
Was bedeutet das „Ersatzkraftwerke-Bereithaltungsgesetz“ (EKBG) für das Rheinische Revier und Lützerath?
Das russische Regime setzt seit Langem seine Erdgasexporte als strategisches Druckmittel ein. Im Kontext des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine sind Lieferungen russischen Erdgases nach Deutschland inzwischen fast vollständig zum Erliegen gekommen und unsicherer geworden. Um in dieser Situation die Verwendung von Erdgas in der Stromproduktion zu reduzieren, ist seit Juli 2022 das sogenannte Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz (EKBG) in Kraft. Es umfasst eine Reihe von Maßnahmen, um dem Strommarkt für einen bis spätestens März 2024 befristeten Zeitraum zusätzliche Erzeugungskapazitäten zur Stromerzeugung mit den Energieträgern Stein- und Braunkohle sowie Mineralöl zur Verfügung zu stellen. Dabei hält das EKBG fest, dass durch diese befristeten Maßnahmen „das Ziel, den Kohleausstieg idealerweise im Jahr 2030 zu vollenden, sowie auch die Klimaziele, unberührt bleiben.“
Das EKBG sieht unter anderem vor, die bereits stillgelegten 300 MW-Blöcke E und F des Kraftwerks Niederaußem und der Block C des Kraftwerks Neurath im Rheinischen Revier vom 01. Oktober 2022 bis spätestens zum 31. März 2024 in eine sogenannte Versorgungsreserve zu überführen. Zum 01. April 2024 müssen sie dann endgültig stillgelegt werden (neuer §50d EnWG). Innerhalb dieses Zeitraums darf RWE eigenverantwortlich über den Betrieb dieser drei Kohleblöcke entscheiden und den produzierten Strom am Strommarkt verkaufen (dieser Zeitraum könnte sich ggf. auch noch verkürzen, da er noch durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung mit nachgelagerten Überprüfungsschritten definiert werden muss). Nach Ablauf des Gesetzes werden die von ihm verursachten Mehremissionen berechnet und vom Deutschen Bundestag Vorschläge erarbeitet, wie diese wieder zu kompensieren sind. Dieses Ziel könnte beispielsweise durch eine Reduktion von CO2-Zertifikaten beim Europäischen Emissionshandel, einen verbesserten Moorschutz oder eine schnellere Abschaltung bestimmter Kohlekraftwerksblöcke erreicht werden.
Das Ökoinstitut geht in einer für den Deutschen Bundestag durchgeführten Berechnung von einem maximalen Mehrbedarf von 8 Millionen Tonnen Braunkohle im Rheinischen Revier durch das EKBG aus (bei konservativ angenommenen 7000 Volllaststunden (VLS); 5,7 Mio Tonnen bei 5000 VLS; 3,4 Mio Tonnen bei 3000 VLS. 2021 liefen deutsche Braunkohlenkraftwerke laut BDEW im Schnitt mit circa 5.800 VLS). Durch den Vortrieb der ersten Sohle stehen bereits jetzt über 100 Millionen Tonnen Kohle am Tagebau Garzweiler unmittelbar zur Verfügung.
Bei jährlichen Verbräuchen von circa 20 Mio. Tonnen und zusätzlich 8 Mio. Tonnen durch EKBG ist eine dauerhafte Versorgung auf Jahre sichergestellt und ein Abriss Lützeraths dafür nicht nötig.
Wie ist die aktuelle Genehmigungssituation des Tagebau Garzweiler?
Der Betrieb von Braunkohletagebauen wird u.a. mittels Hauptbetriebsplänen (HBP) genehmigt. Diese haben meist eine Laufzeit von circa drei Jahren und beinhalten das geplante Abbaugebiet, Fördermengen, wasserwirtschaftliche Planungen und vieles mehr. Der von der schwarz-gelben Vorgängerregierung im Jahr 2019 genehmigte aktuelle Hauptbetriebsplan des Tagebaus Garzweiler läuft zum 31. Dezember 2022 aus. Dieser Hauptbetriebsplan gibt RWE die rechtliche Möglichkeit, Lützerath dieses Jahr abzubaggern.
RWE hat einen neuen Hauptbetriebsplan für die Jahre 2023 – 2025 beantragt, der zur Bescheidung beim Bergamt der Bezirksregierung Arnsberg liegt. Dieser sieht eine Zerstörung Lützeraths und einen Vortrieb des Tagebaus bis zur Achse Keyenberg – Holzweiler vor. Die Inanspruchnahme der Dörfer des dritten Umsiedlungsabschnittes ist hingegen nicht vorgesehen. Im Zukunftsvertrag zwischen CDU und Grünen wird zum Zwecke der Versorgungssicherheit eine durchgehende Genehmigungssicherheit der Tagebaue und Kraftwerke als erforderlich angesehen.
Die Entscheidung, welche Kohlemengen in welchen Bereichen abgebaut werden dürfen, wird also in zwei Prozessen bearbeitet: in der kurzfristigeren Frage nach der Genehmigung eines neuen Garzweiler-Hauptbetriebsplanes und längerfristig in der Erarbeitung einer neuen Leitentscheidung. Damit dieser nicht den Vereinbarungen des Zukunftsvertrages widerspricht und RWE keine irreversiblen Fakten schafft, ist für den BUND NRW „nur eine Verlängerung der Zulassung innerhalb der Grenzen des bisherigen Hauptbetriebsplans exklusive Lützerath eine tragfähige Option“.
Wie wirkt sich die aktuelle Gassituation auf den möglichen Erhalt Lützeraths aus?
Eine Studie aus August 2022 der CoalExit Research Group betrachtet die Auswirkungen der Gasknappheit auf die Auslastung der Kohlekraftwerke am Tagebaukomplex Hambach und Garzweiler II. Sie geht von einem wie oben beschriebenen Mehrbedarf nach dem EKBG und einer unwahrscheinlich hohen Auslastung der Braunkohlenkraftwerke in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre aus. Dabei betrachtet sie alle Kraftwerksblöcke und die drei Kohleflöze individuell und beachtet die Bedarfe der Veredelungsbetriebe. In diesem maximalen Auslastungs-Szenario besteht ab Beginn des Jahres 2022 bis zum Ende der Kohleverstromung im Jahr 2030 ein Bedarf von insgesamt 271 Mio. Tonnen Braunkohle. Diesem Bedarf steht ein Kohlevorrat von ca. 301 Mio. Tonnen im Bereich des aktuell gültigen Hauptbetriebsplanes bei Erhalt Lützeraths gegenüber. Es stehen also auch ohne Inanspruchnahme von Lützerath mehr Vorräte zur Verfügung als benötigt.
Folglich kommt die Studie zu dem Schluss, dass „weder eine energiewirtschaftliche Notwendigkeit für die Inanspruchnahme weiterer Dörfer und Höfe am Tagebau Garzweiler II besteht noch eine energiewirtschaftliche Rechtfertigung zur Genehmigung neuer über den Bereich des aktuellen Hauptbetriebsplan hinausgehender Abbauflächen.“
Die Sorge um unsere Versorgungssicherheit hat derzeit eine besondere Priorität. Die Studie der CoalExit Research Group hat daher Annahmen so gewählt, „dass die Braunkohle den größtmöglichen Beitrag leistet, um die Energiekrise zu entspannen.“ Auch unter diesen erschwerten Bedingungen und „unter der Annahme einer unwahrscheinlich starken Auslastung in den Jahren 2022 bis 2024 und einer nur schwachen Reduktion bis 2030“ reichen wie oben beschrieben „die vorhandenen Kohlevorräte im HBP 2020 – 2022 aus, um den kurzfristig höheren Braunkohlebedarf zu decken.“
Für die Expert*innen zeichnet sich auch unter den aktuellen Gegebenheiten ein eindeutiges Bild: “Eine Inanspruchnahme von Lützerath ist daher trotz der Energiekrise in Europa energiewirtschaftlich nicht notwendig, weder kurzfristig in den Jahren 2023/24 noch mittelfristig bis zum Ende der Kohleverstromung im Jahr 2030.“
Hinweis: Da RWE seine Berechnungsgrundlagen als Betriebsgeheimnisse nicht veröffentlicht, beziehen sich die obigen Darstellungen auf die aktuelle wissenschaftliche Studienlage und öffentlich zugängliche Daten.
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